
Gedichte von Dorothee Sölle und Rose Ausländer. Briefe an die Freundin Lotte von Franca Schaad und Marie Jeger. „Die wunderbaren 30 Jahre mit Lotte“ von Mark Wilhelm.
Die Pfarrerin Dorothee Dieterich führte uns durch die Abschiedsfeier als umsichtige „Zeremonienmeisterin“ .
Sie stellte ein Gedicht in den Zusammenhang mit Lottis Asche, die wir an verschiedene Orte und Menschen verteilen – ganz so, wie Lotti sich im Leben verschenkt hat.
„Meine verehrte Lehrerin Dorothee Sölle übersetzte, drei Tage vor ihrem plötzlichen Tod, das folgende Gedicht aus der Tradition der American Natives:„
Steh nicht an meinem Grab und weine
Ich bin nicht dort, ich schlafe nicht.
Ich bin der tanzende Wind im Blau
Der Diamantenglanz im Schnee
Ich bin das Sommerlicht auf reifem Korn
Ich bin ein sanfter Herbstregen.
Wenn du aufwachst im Morgenlicht,
bin ich der zart sich hebende Kreis
von ruhigen Vögeln in kreisendem Flug.
Ich bin die sanften Sterne, die nachts schauen.
Steh nicht an meinem Grab und weine
Ich bin nicht dort,
ich bin nicht gestorben.
Als Sendung – in der reformierten Tradition einer Feier wird die Gemeinde damit aus dem geschützten Rahmen des Rituals wieder hinaus in das Leben geschickt – las Dorothee ein Gedicht von Rose Ausländer (1901-1988):
Noch bist du da
Wirf deine Angst
in die Luft
Bald
ist deine Zeit um
bald
wächst der Himmel
unter dem Gras
fallen deine Träume
ins Nirgends
Noch
duftet die Nelke
singt die Drossel
noch darfst du lieben
Worte verschenken
noch bist du da
Sei was du bist
Gib was du hast
Franca Schaad las folgenden Brief an ihre Freundin Lotti:
Liebe
Ich denke an dich.
Du stehst in der Küche in der Zähringerstrasse, es läuft Wild Child und du singst mit.
Deine Haare tropfen, deine farbig gestreifte Badehose hängt auf dem Balkon, eben bist du noch in den Fluss gesprungen, dann steht in 10 Minuten ein Zmittag auf dem Tisch. Bunter Salat mit Dahlien, warmen Pfirsichen, geröstetem Sesam – schnell und exquisit ist deine Spezialität. Auf eurem Balkon wachsen Tomaten, Kräuter, Blumen, wachen Götter und kleine Madonnen über Euch und die Vorbeikommenden. Jeder Zentimeter eurer Wohnung ist beseelt, erzählt von Faszinationen und Humor, von Sinn für Kunst, vom letzten rauschenden Fest.
Gespräche mit dir sind gemeinsames Phantasieren, Entwirren, Entwerfen. Du webst ein warmes Band, das innert kürzester Zeit aus Fremden Freund:innen macht. Du siehst und horchst hin, spürst etwas funkeln in den Menschen, legst es frei.
Du kannst über Zäune klettern, ohne meine Hand loszulassen. Die Nähe die du wagst ist radikal.
Du stehst nachdenklich auf meinem Balkon in Berlin.
Sind wir wirklich richtig hier? Wo werden wir gebraucht? Was können wir tun?
Du willst dich nicht zufriedengeben. Es muss um etwas gehen. Du hast gute und grosse Fragen und willst alle stellen. Dich ihnen stellen. Einen Platz finden auch. Du scheinst auf der Suche, und doch ist das mit dir sein ein Ankommen. Du bist eine grosse Zauberin des im-Moment-sein. Mit dir sein ist wunderlich und wundervoll, die Wunder sind da weil du sie siehst.
Du bist manchmal in Aufruhr ob der Zerstörung, die wir auf dem Planeten anrichten, so wie jeder denkende und fühlende Mensch. Du willst verzweifeln ob der Widersprüche in denen wir leben. Die in uns leben.
Du bist ehrlich und aufrichtig – und so willst du auch durchs Leben ziehen, stampfen, tanzen. Aufrecht, mit luftigen Gedanken und mit den Füssen in der Erde.
Du bist All-In. Du berührst und gehst in die Tiefe. Mal beneide ich dich um dein Draufgängertum, mal finde ich dich naiv, mal habe ich Angst um dich. Aber vor allem ist es schön, mit dir zu sein. Du hast keine Angst. Nicht vor dem Leben und nicht vor dem Tod.
Du nimmst deine Zeit und deine Lieben in die Hände, du packst an und umarmst.
Du bist manchmal in Zweifeln, aber immer voller Hingabe und Liebe. Du kannst jauchzen bis zum nächsten Schneeberg. Und geniessen. Du springst in jeden Fluss.
Dein leuchtend gelber Kurkumaporridge ist meine Rettung in einem kalten Winter. Mein eigenes Zuhause ist mehr Zuhause wenn du da bist. Du erkennst was gebraucht wird, und bist kurz darauf was gefehlt hat. Du kannst heilen und wachsen lassen, du kannst den Raum in dein Licht tauchen.
Dieses Licht wird bleiben, und in der Luft hängt dein schallend-ansteckendes Gelächter, das uns allen, dir selbst, dem Absurden, dem Schönen, dem Hässlichen, dem Wachsenden, dem Vergehenden gilt.
Marie Jeger las diesen Brief an ihre Freundin Lotti:
Lotti Liebe
Ich sehe dich in deinem pastellfarbenen Nachthemd,
deine starken Füsse schauen aus der weich geblümten Bettwäsche hervor –
schon als wir uns kennenlernten, mit fünfzehn. Bald darauf nahm uns eine gemeinsame Freundin mit in die Ferien nach Griechenland. Vier junge Teenies allein in der Ferne.
Feigen gepflückt und Fische gekocht, den Anderen Sorgen gemacht, weil wir nachts nicht nach Hause kamen. Nächte durchgetanzt bis mich dein Arm der Morgensonne entgegen zog. Am Strand bist du so hoch gesprungen, dass deine Füsse über die rotaufgehende Sonne trafen.
Du konntest so schnell nah sein. In unseren gemeinsamen Wohnungen hast du Türen aufgerissen, Kaffee ans Bett – oder Blumen – hingestellt, Briefe hinterlassen vor jeder Aufregung des Alltags,
überall, Dich hergebracht.
An trüben Tagen hast du Zimt in die Bolognese gemischt, Nüsse angeröstet, frische Leber gekocht, wenn die Mens lief. Du wusstest zu sorgen und das Innere zu wärmen. Nicht nur Türen reisst du auf, auch deine Kleider reisst Du vom Leib wenn du vor dem Wasser stehst. In jedes Wasser springst du hinein, ziehst uns alle mit, mit deinem freien Körper. Du lädst Freunde ein, mit an deine gefundenen Orte, zu deiner grosszügigen Familie oder in dein Nachtleben wo du die Bar schmeisst und gleichzeitig die Tanzfläche verzauberst, wie ein Paradiesvogel.
Von eleganten Kleidern umhüllt bist du durch viele Städte gewandert. In den letzten Jahren haben sie sich mit Hühnerfederschmuck und dreckigen Jeans ersetzt. Verlorene Fragen aus dem Stadtleben haben sich durch deinen Kontakt mit der Natur in Luft aufgelöst. Deine Hände sind in die Erde getaucht, deine Nase den duftenden Kräuterpflanzen gefolgt.
Beim Wandern haben wir ‚schönste Abeschtärn’ in den Nachthimmel geschrien, so laut wir nur konnten. Du hast Welten durchquert und dich tausendfach verändert, nur deine Bettwäsche ist immer die gleiche geblieben: die weiche, geblümte wie damals.
Der Vater, Mark Wilhelm:
Die wunderbaren 30 Jahre mit Lotte
Vor genau zwei Wochen waren Eli und ich mit 3 Enkelkindern und Woeser unterwegs zur Binntalhütte. Wir waren ins Gespräch vertieft mit neuen Freunden, erzählten von Lotte, vom Mut, den sie uns macht. Dass Lotte seit 3 Tagen im Sterben lag, erfuhren wir auch genau vor 2 Wochen, wir rasteten gerade am Halsensee. Zwei Wochen haben wir seither geweint, gelacht, gesungen, geredet und getrauert. Wir waren die ganze Zeit geborgen in unserer starken Familie, in Lottes wunderbarem Freundeskreis und hier im Dorf.
Aber ich fange vorne an.
Beginn und Geburt
Die 30 Jahre mit Lotte fingen an mit dem Bedürfnis nach Einkehr, nach zu sich Kommen von Eli und Mark, die damals schon Eltern von 3 Kindern waren. Sie waren glücklich und herausgefordert vom Leben im 3-Generationenhaus mit den Grosseltern, dem grossen Garten und der Geigenbauwerkstatt. Gemeinsam fasteten sie…
… 9 Monate später, an einem schönen Herbsttag half Susanne Diemling, die schon Hebamme bei Jakob gewesen war, nun auch Lotte an der Bachstrasse 64 auf die Welt. An diesem Tag war das Haus erfüllt vom Geruch der durch die Schneidemaschine gedrehten Räben, die Grossätti Rolf wie jedes Jahr vom Bauern geholt hatte. Die wartenden Geschwister halfen den Grosseltern, Kümmel und Salz wurden gestreut, das Sauerkraut gehobelt- und dann war sie da, unsere Jüngste und bekam ihren Namen, den sich alle sofort merken konnten. Lotte, ihr Name war eine kleine Verneigung vor Lilotte Bopp, mit deren Familie wir immer eng verbunden waren. Und Aurelia sollte dem Strahlen Raum geben.
“S’Lotti schelet / gar ned”, war das Motto der Anzeige. Lotti war willkommen. Sie fand ihren Platz in der Familie, in Haus und Garten, in der grossen Verwandtschaft, auf der Quartierstrasse und im Dorf.
Lotte auf dem Weg zu den Menschen
Doch ihren Platz musste sie sich zuerst auch erobern und erkämpfen. In der Familie löste sie ein Rucken aus, und manchmal hat sie auch genervt mit ihrem unbändigen Willen, sich das Leben anzueignen, dabei zu sein.
Eli ist im Garten, zeigt der kleinen Lotti in der Feuerwehrhose eine Schnecke. Lotte greift zu und verschluckt das schmierige Ding. Eli, die sonst eher für ihre Schreie berühmt ist, weint. Es ist schrecklich für sie. Hat sie jetzt ihr Kind vergiftet?
Eine Erinnerung von Kathrin: Lotti, etwa 4 Jahre alt, ist im Veloanhänger auf der grossen Radtour in der Bretagne. Sie ist ein Radio, hat zwei Programme, Text oder Musik und erzählt oder singt je nach Wunsch für die Mitfahrenden.
Lottis erste grosse Freundschaft verband sie mit Lorenz, dem gleichaltrigen Jungen in der Nachbarschaft. Seit sie etwa 3 Jahre alt war, war sie mit ihm auf der Strasse, bei uns, bei Stierlins, zu fast jeder Tageszeit und bestand mit ihm auch Abenteuer. In der Neubausiedlung, für die unsere Schafe und der Obstgarten weichen mussten, kleistern die beiden mit Mörtel die Türschlösser zu.
Dann kam der Stufenwechsel in der Schulzeit. Lorenz war nun in der Bez, Lotti in der Sek, die Innigkeit fand einen für Lotti schmerzenden Unterbruch. In der neuen Klasse forderten die Meinungsführerinnen einen «style», der nicht derjenige von Lotte war. Sie wurde gemoppt, fand aber Halt daheim und in einem weiteren Kreis von Freundschaften.
Eine Welt, die nicht stabil genug war, war eine Welt, die Lotte nötig hatte, das wusste sie schon bald und übernahm Verantwortung. Marie war schon ausgezogen und das geliebte Samichlaus-Ritual wäre eingeschlafen, doch Lotti übernahm als Jüngste die Rolle, und sie war mit grosser Würde ein 10-jähriger Samichlaus.
Ein Ritual war ihr auch das gemeinsame Essen. Die Cousine Muriel erinnert sich, wie Lotti als kleines Kind für die Cousinen und Schwestern Butterbrote schmierte. Lotti entwickelte gastliche Qualitäten und freute sich an den häufigen Gästen des Hauses und diese sich an ihr. Lotte fing an zu kochen, und schon bald ist allen klar: Lotte soll mal ein Hotel führen.
Aufgehoben war Lotte auch in der Geigenbauwerkstatt. Freundschaftliche Beziehungen verband sie mit all den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Eine besondere Mentorin hatte sie in Patricia. Patricias 20-jährige Anstellung in Suhr begann mit Lottes Geburt. In grosser Nähe und Verbundenheit begleitete sie Lottes Werden. Es war auch Patricia, die Lotte mit Manuela Kreiliger zusammen brachte. Und Manuela war dann wiederum die Verbindung zur wunderbaren Freundin Marie Jeger.
Lotte fand die Nähe zu den Menschen mit zunehmender Selbstverständlichkeit. Eine innere Freude schien sie immer stärker zu erfüllen, und diese teilte sie grosszügig mit den Menschen um sie, ohne auszugrenzen, in einer ansteckenden Weise. Lotte leuchtete.
Und Lotte lernte…
Im Rahmen einer Arbeit entschloss sich Lotte zu einem Monat ohne Handy, dafür schrieb sie Briefe, lebte ihre Freundschaften in direkten Kontakten.
Als Grossmamme Brigitte pensioniert war, hatte sie mehr Zeit für die Familie und besonders für Lotte. Es war nicht immer leicht mit der fordernden Grossmutter, aber Lotte wusste auch, welches Geschenk deren Zeit war und stellte sich dem Angebot, übte regelmässig mit ihr Cello, lernte die Pflanzen kennen und hatte Aufgaben im Garten. Sie entfaltete sich im Lernen, folgte ihren Interessen, wechselte an die FMS, dann an die Kanti und dann an die Uni, studierte Kunstgeschichte in Basel, später in Berlin.
Über ihre Freundschaften und Interessen eignete sie sich immer mehr von der Welt an und in die Welt zog sie dann auch.
Zur Familie bewies sie eine Anhänglichkeit, die wir immer mehr auch als Pflege erfuhren. Wir Alten durften immer wieder ihre Freunde und Freundinnen kennen lernen und wurden so beschenkt. Lotte sang mit Marie und Boris, war Felia eine wunderbare Gotte und auch in Jakobs Haus war sie regelmässiger Gast und rauchte mit ihm dieses und jenes.
Von Lotte nach Basel eingeladen zu werden, mit ihr teilzuhaben am Leben in der Stadt, dem Netzwerk der Leute, den kleinen schönen Projekten rund um die Kultur war eine besondere Ehre für Eli und Mark. Wir bestaunten die aufblühende Tochter, die festet, Nächte durchtanzt, nebenbei im Service arbeitet, eine Arbeit in der Kunsthalle annimmt und mit Jonas bei verschiedenen Kunstprojekten mitarbeitet. So entsteht auch ihre Freundschaft zu Gerda und Jörg. «too early to panic», hiess deren Ausstellung im Tinguely-Museum, in der Jonas und Lotte als Guides Besucherinnen begleiteten und deren Tränen sammeln.
Im Panikmodus war sie nie, aber voller Sorge um den Zustand der Welt und entschlossen, ihren bestmöglichen Beitrag zur Gesundung der Welt zu leisten.
So war unsere Lotte aufgehoben in einem grossen Netz von lieben Leuten. Sie war immer neugierig, voller Lust aufs Leben. Wir erlebten, wie sie Menschen Gutes tat. Sie hat Verhärtetes weicher gemacht, sich Entfremdete wieder näher gebracht. Ob schmutzig oder schwielig, sie hat die Füsse der Menschen ganz selbstverständlich in die Hände genommen und massiert, und es war warm und lustig mit ihr.
30 Jahre hat es gedauert vom allerersten Beginn bis zu Lottes Sterben in diesem schönen Rebberg. Das Ende ist uns unverständlich und will nicht zu all diesem Aufblühen passen. Wir hatten so viel Hoffnung in sie gesetzt- nun sind in uns lauter Wunden. Aber wir staunen glücklich über die Schönheit von Lottes wunderbarem Leben. Und wir empfinden diesen Abschied als Aufforderung, weiter zu machen, zur Teilhabe an diesem grossen Geben und Nehmen und gemeinsamen Gestalten.